Wilder Freiger (3418 m), Becherhaus (3195 m) und Wilder Pfaff (3458 m) - Tag 1

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Eine Grenzüberschreitende Hochtour

Wenn man mich fragen würde, was die härteste Tour war, die ich je gemacht habe, dann wäre es eindeutig diese Hochtour. Warum? Dafür gibt es wie immer viele Gründe: Das Wetter, der Anspruch, meine Höhenangst und meine Kondition. Aber erstmal eines nach dem anderen:
Um am Samstag frühmorgens starten zu können, brechen wir am Freitag nach der Arbeit in München auf und erreichen gegen Mitternacht unsere Unterkunft in Ranhält im schönen Stubaital. Das Wetter ist kaiserlich vorhergesagt und legen wir uns nach einem späten Feierabendbier mit Vorfreude im Herzen ins Bett und sinken bald in den Tiefschlaf dieser kurzen Nacht. Denn am nächsten Tag heißt es früh aufstehen. Gut, also relativ früh, denn wir haben beschlossen die Tour mit Liftunterstützung zu gehen – eine weise Entscheidung btw. – und daher brauchen wir ja auch gar nicht zu starten, bevor die erste Bahn zur Mittelstation des Stubaier Gletschers fährt.

Gleich nach dem Aufstehen müssen wir feststellen, dass Nebel tief über dem Tal hängt. Nichts Ungewöhnliches am frühen Morgen, aber sicherheitshalber befragen wir doch noch einmal Wetter-App und Wirt und bekommen von beiden eine gänzlich differente Antwort von der, die die App uns noch am Vortag lieferte: Das Wetter wird mäßig. Frühestens gegen Mittag ist mit Auflockerungen zu rechnen und über Nacht hat es oben auf dem Gletscher sogar geschneit.
 
Puh. Wir beschließen, uns mit dem Frühstück etwas Zeit zu lassen und erst etwas später aufzubrechen. Gegen 9:30 Uhr nehmen wir aber schließlich die Bahn und fahren hinauf zur Mittelstation der Eisgratbahn.
An der aktuell geschlossenen Dresdner Hütte beginnen wir unsere Tour mit einem circa 300 Höhenmeter hohen, steilen Anstieg durch felsiges, aber gut markiertes Gelände zum Peiljoch (2.672 m). Hier oben haben wir bereits den ersten Kontakt mit Neuschnee. Man will kaum glauben, dass es Mitte Juli ist.

Von hier aus geht es nun wieder gut 160 Höhenmeter bergab zum Gletschersee des Sulzenauferners. Über eine schmale Eisenrampe müssen wir hier den Gletscherbach queren. Danach geht es wieder etwas steiler bergauf und langsam wird es immer schwieriger, überhaupt eine Route zu erkennen, geschweige denn, das Gelände zu überblicken. Der Nebel hat sich schwer festgesetzt und wir können uns eigentlich nur noch an unserem GPS-Gerät orientieren.
Als wir schließlich, kurz vor dem Grat-Einstieg die Gruppe einholen, deren Spuren wir so halb gefolgt waren (natürlich nicht blind, sondern nur mit Beihilfe des GPS-Geräts) müssen wir feststellen, dass diese 7ner-Gruppe völlig orientierungslos ist.

Dankbar nehmen die wenig Erfahrenen unsere Hilfe an und gemeinsam schaffen wir es bis zum Einstieg, wo die Grat-Kletterei beginnen soll. Die Sicht ist schlecht, es ist kalt und unsere neuen Weggefährten sind teils vollkommen erschöpft und ohne jede Klettererfahrung. Sie beschließen an dieser Stelle, die Tour abzubrechen und zur Sulzenauhütte abzusteigen, in der Hoffnung, dort im Notlager unterzukommen.

Das Schlimme ist nicht nur die körperliche, sondern auch die mentale Erschöpfung, die uns an diesem Punkt befällt. Statt eines atemberaubenden, hochalpinen Anstiegs mit überwältigender Aussicht, stapfen wir seit mehreren Stunden im totalen White-out umher, ohne einen Gipfel zu sehen, dem wir uns nähern.
 
Dennoch beschließen wir weiterzugehen, denn noch deprimierender, als unsere jetzige Situation wäre es, wenn wir jetzt aufgeben würden. Weiter geht es über den Nordwestgrad des Wilden Freigers, der zwar mit Stahlseilen versehen ist, so dass wir uns gut sichern können, ich bete aber trotzdem unentwegt, dass der Nebel nicht noch dichter wird, denn dann könnte es wirklich gefährlich werden.

Und meine Gebete werden erhört! Plötzlich stoßen wir durch den Nebel und vor uns breitet sich ein atemberaubendes Panorama mit von Nebel umhüllten Bergspitzen aus. Der Anblick ist so überwältigend, dass wir uns erst einmal setzen und den Moment genießen müssen.

Von jetzt an geht alles viel leichter. Zwar habe ich hier oben auf dem Grad durch die verbesserte Sicht auch mehr mit meiner Höhenangst zu kämpfen, aber dafür ist uns jetzt auch wieder klar, warum wir diesen Sport eigentlich so lieben. "In solchen Momenten muss ich immer fast weinen", dieser Ausspruch meines Bruders in dieser Situation beschreibt genau, was wir beide fühlen.
 
Der Gipfel des Freigers wird jetzt spielerisch erreicht. Auch wenn mir die Beine schon langsam schwer werden. Wir sind nun in Italien angekommen! Danach führt uns der Weg hinab in eine Senke und dann erwartet uns ein letzter Anstieg zum Becherhaus. Wieder klettern! Wäre da nicht die Aussicht auf eine heiße Suppe und ein kühles Bier, dann wäre ich wahrscheinlich einfach hier unten geblieben. Aber so nehme ich mich eben noch einmal zusammen und schleppe mich mit letzter Kraft auf diesen verdammten Felsen hinauf, auf dem das Becherhaus steht.